Wenn es um Lesen geht, geht es immer auch um Emotionen, um Gefühle. Fesselt mich ein Buch nicht, lese ich es nicht. Das gilt nicht nur für Liebesromane oder Bücher, in denen es um Gefühle geht, sondern eigentlich für alles Geschriebene.
Das Entscheidende ist dabei die Wortwahl. Man hat herausgefunden, dass Wörter, die mit Gefühlen verbunden sind, im menschlichen Gehirn liebevoller verarbeitet werden.
Der Artikel »Was beim Lesen fesselt« beschreibt die Ergebnisse eines Experiments, bei dem den Teilnehmern Wortfolgen gezeigt wurden, die entweder positive Gefühle hervorrufen (Liebe, Ekstase, Glück, Freude, Erfolg, Treue), neutral sind (Papier, Pflanze, Tier, Fahrzeug, Gebäude) oder negativ besetzt (Gewalt, Krieg, Angst, Hass, Versagen, Misserfolg, Eifersucht).
»Im Gegensatz zu den neutralen Wörtern löste schon ein kurzer Blick auf die Wörter, die in irgendeiner Weise mit Gefühlen verbunden waren, innerhalb von Sekundenbruchteilen eine starke Reaktion im Gehirn aus. Auch blieben diese Wörter sehr viel besser im Gedächtnis der Probanden haften«, heißt es in besagtem Artikel.
Das bedeutet, wenn ich ein Buch lese, das viele Wörter enthält, die mit Gefühlen zu tun haben, werde ich es kaum weglegen können und werde mich später auch besser daran erinnern.
Es liegt auf der Hand, dass Autorinnen dies beim Schreiben berücksichtigen sollten. Ein Buch, in dem es um Gefühle geht, sollte das auch in der Wortwahl widerspiegeln. Viele Schreibanfängerinnen machen leider den Fehler, darauf nicht zu achten.
Was löst ein Satz in der Leserin aus, der einfach nur beschreibt, statt die Kraft der Worte zu nutzen?
Sie unterhielten sich über ihre Beziehung.
Noch langweiliger geht es kaum, oder? Würden Sie ein solches Buch lesen wollen?
Also ich nicht.
Ganz anders sieht es da schon mit diesem Satz aus:
»Es geht nicht um Liebe!«, fauchte Carmen.
Da ist zuerst einmal das Wort Liebe – ohnehin das Wort, das uns alle am meisten interessiert, ist es nicht so? – und dann wird dieses Wort nicht nur »gesagt«, sondern »gefaucht«. Das lässt sofort ein Bild vor den Augen der Leserin entstehen.
Da ist eine Frau, die gespannt wie eine Raubkatze – denn nur Katzen fauchen – auf dem Sprung ist, ihrem Gegenüber ins Gesicht zu springen. In diesem Satz liegt schon die halbe Geschichte.
»Ich liebe dich aber«, flüsterte Hanna traurig.
So geht die Szene weiter, und wieder werden Emotionen genannt. Liebe und Trauer. Außerdem wird gezeigt, dass die zweite Person, die an dieser Unterhaltung teilnimmt, offenbar keineswegs so raubkatzenmäßig erregt ist. Sie spricht nur leise, flüstert.
»Dein Pech.« Carmens Stimme fuhr auf Hanna nieder wie ein Vorschlaghammer.
Pech. Erneut ein Gefühlswort, wenn auch negativ besetzt. Und das Bild eines Vorschlaghammers lässt mich beim Lesen fast zusammenzucken.
»Ich bin so glücklich mit dir.« Hannas Stimme wurde noch leiser, verschwand fast aus dem Raum.
Glücklich. Zwar scheint Glück in diesem Moment nicht wirklich zur Debatte zu stehen, aber das Wort selbst löst schon eine Reaktion aus.
»Glück, Unglück – was ist das schon für ein Unterschied?«, schnappte Carmen.
Nun wird dem Glück noch das Unglück hinzugefügt. Beides sehr starke, gefühlsbesetzte Wörter. Und Carmen spricht diese Wörter nicht nur aus, sie schnappt zu – wie eine Kobra, die das Kaninchen verspeist.
»Für dich ist Unglück dasselbe wie Glück?« Hannas Augen schimmerten feucht. »Du bist nicht glücklich mit mir?«
»Ich weiß nicht, was Glück ist«, sagte Carmen. »Also lass mich damit in Ruhe!«
»Ich empfinde Glück, wenn ich dich ansehe – weil ich dich liebe«, flüsterte Hanna unter Tränen. »Du empfindest das nicht?«
Carmen beugte sich vor. »Ich empfinde etwas, wenn wir zusammen im Bett sind«, sagte sie betont. »Reicht das nicht? Leidenschaft, Ekstase – das ist doch auch ganz nett.«
»Und doch bist du nicht glücklich«, bemerkte Hanna bedrückt.
Das alles ist die Darstellung des langweiligen Satzes »Sie unterhielten sich über ihre Beziehung«. Schon ein Unterschied, oder?