Die Frage nach dem »Warum will ich einen Roman schreiben?«, die im letzten Kapitel gestellt wurde, ist tatsächlich wichtiger, als man denkt. Einen Roman zu schreiben ist ein Traum, den man vielleicht hegt, man macht sich aber nicht unbedingt klar, daß das viel Arbeit und Lernen bedeutet. Es ist wie noch einmal die Schulbank drücken, und das ist für viele nicht das, was sie erstreben.

Lernen dauert lebenslang, es hört nicht mit dem Schulabschluß, dem Meisterbrief oder dem Universitätsabschluß auf. Und ebenso ist es mit dem Schreiben. Schreiben ist nicht etwas, das man lernt, und dann kann man es. Punktum. Es ist ein lebenslanges Weiterlernen, ein lebenslanges Sich-beschäftigen mit Menschen und mit Situationen, mit Problemen und Lösungen.

Ich habe mich schon oft mit Leuten unterhalten, die gern einen Roman schreiben würden, und die Frage nach dem »Warum?« bringt meistens ein großes Fragezeichen auf die Gesichter. Die meisten, das ist meine Erfahrung, wollen überhaupt keinen Roman schreiben, sie wollen ihr eigenes Leben aufschreiben.

Viele meinen anscheinend, was sie jeden Tag so in der Schule mit ihren Freunden erleben, wäre es wert, aufgeschrieben zu werden. Diesen Kindern muß ich ihre Illusionen leider rauben: Nein, liebe Kinder, so interessant ist euer Leben in der Schule nicht, auch wenn es alles ist, was ihr kennt.

Dasselbe gilt jedoch auch für Erwachsene. »Ich habe schon so viel erlebt, das müßte mal aufgeschrieben werden« ist oft der Grund dafür, warum Leute meinen, einen »Roman« schreiben zu wollen. Es ist auch ihr gutes Recht, ihr Leben aufschreiben zu wollen, aber ein Roman ist das leider nicht. Bei den meisten ist das Aufgeschriebene dann lange nicht so spannend, wie es das Leben vielleicht tatsächlich war.

Einen Roman schreiben heißt nicht, einfach nur das aufzuschreiben, was passiert ist, mehr oder weniger gut ein Tagebuch oder eine Art Bericht der Ereignisse zu erstellen, ein Roman bedeutet, eine neue Welt zu erschaffen.

Überprüfen Sie das, was Sie bis jetzt geschrieben haben, einmal unter diesem Aspekt. Ist es eine neue Welt, die Sie erschafffen haben, mit neuen, spannenden Figuren, oder ist es nur Ihre »alte Welt«, in der Sie leben oder gelebt haben, mit den Personen, die Sie kennen oder früher einmal kennengelernt haben?

Geschichten – und insbesondere Romane – entstehen aus der eigenen Vorstellungskraft, der Imagination. Imagination ist nicht Realität. Imagination ist reine Phantasie.

Dennoch basiert das alles natürlich auf der Realität und auf realen Menschen. Man schaut aus dem Busfenster und sieht eine Frau mit Schirm im Regen stehen, und plötzlich entsteht aus dieser realen Figur – die ich gar nicht kenne – eine Geschichte.

Wo kommt sie her? Wo geht sie hin? Warum steht sie im Regen, wenn sie doch auch im Trockenen sein könnte? Was hat sie erlebt? Was denkt sie? Was fühlt sie?

Können Sie diese Fragen für jede der Figuren in Ihrem Roman beantworten?

Die Faszination für Menschen ist eine Grundvoraussetzung für das Schreiben. Das Schreiben eines Romans erfordert das Erfinden vieler Figuren, vieler Lebensläufe, und deren Verbindung zu einem homogenen, glaubwürdigen Text. Wenn ich mich nur für mich selbst interessiere, werde ich andere Figuren weder erfinden noch beschreiben können. Oder sie werden sehr flach, sehr eindimensional.

Die Oberfläche ist jedoch nicht das, was an einer Figur interessiert, sondern das Innenleben.

Die Arbeit einer Schriftstellerin ist eben etwas anderes als die Arbeit in einem Kaufhaus, an einem Fließband oder als Sekretärin im Büro. Ich muß die Menschen beobachten und das nicht nur äußerlich, ich muß sie erkennen, muß wissen, was in ihnen vorgeht, denn wie will ich etwas schreiben, wenn ich nicht in die Geschichte und meine Figuren eintauche?

Das Erleben kommt vor dem Schreiben, auch das Leben kommt vor dem Schreiben. Wer nicht lebt und nichts erlebt hat, wer seine Umwelt nicht beobachtet und Menschen als das interessanteste im Leben betrachtet, als den Fundus, aus dem er schöpft, der wird kaum je ein gutes Buch zustandebringen. Er schmort höchstens im eigenen Saft (seiner eigenen Gedanken). Anregung von außen ist ungeheuer wichtig, Schreibende können nicht darauf verzichten.

Recherche ist eine gern vernachlässigte Komponente des Schreibens. Was man nicht kennt, darüber kann man auch nicht schreiben. Man muß eine Vorstellung davon haben, wo die eigene Geschichte spielt, deshalb ist es am besten, den Ort genau zu kennen, jeden Winkel erforscht zu haben. Man muß auch wissen, wie die Figuren denken und fühlen, bei einem Beruf, den man selbst nicht ausübt, muß man recherchieren und erfahren, wie es im beruflichen Umfeld meiner erfundenen Figur zugehen könnte, und so weiter, und so fort.

Neugier, Neugier, Neugier. Man kann es nicht oft genug wiederholen. Man kann nicht Schriftstellerin sein, ohne neugierig zu sein, und »Recherche« bedeutet nicht immer nur, das zu recherchieren, was man gerade im eigenen Buch behandelt. Erfahrene Schriftstellerinnen wissen das.

Ich recherchiere nicht nur für Geschichten, die ich gerade schreibe, ich interessiere mich einfach für so gut wie alles, ich lese Zeitungen und Zeitschriften, verfolge Unterhaltungen meiner Mitmenschen (egal ob sie mit mir reden oder mit jemand anderem. Ja, gut, ist vielleicht ein Schlag ins Kontor meiner guten Erziehung – ich weiß, daß man das nicht tut –, aber es ist einfach spannend, und meine Neugier wird immer wieder durch neue Geschichten und Ideen belohnt) und schaue auch im Fernsehen nicht nur die Geschichten selbst an, sondern versuche daraus etwas für mich und meine Arbeit zu ziehen.

Aber das alles wäre nichts, wenn der Roman nicht geschrieben würde. Und damit kommen wir zu dem eigentlichen »Warum« des Romanschreibens. Die eigentliche Antwort.

Das fängt an mit »Ich schreibe einfach gern« – schon mal ein guter Grund –, aber dann entwickelt es sich sehr schnell zu »Ich kann einfach nicht anders. Ich muß einfach schreiben. Die Geschichten wollen heraus.«

Und das ist und bleibt der entscheidende Punkt: Die Geschichten wollen heraus, sie schreiben sich selbst. Nicht wir als Autorinnen schreiben einen Roman, sondern er will geschrieben werden, er zwingt uns dazu, es ist unmöglich, es nicht zu tun.

»Wenn ich nicht schreibe, lebe ich nicht.« Schreiben ist Leben.

Das ist ein Gefühl, das wohl jede Schreibende kennt: Die Geschichte will mich, ob ich will oder nicht.