Im ersten Teil ging es hauptsächlich um Namen, nun geht es darum, diesem Namen ein Gesicht und einen Charakter zu geben, die Figur aus dem Nichts – denn damit fangen wir immer an, wir Schriftstellerinnen: dem Nichts – zu erschaffen.
Die Figurenbeschreibung
Eine Figurenbeschreibung ist nicht: »Sie war groß und blond und sah gut aus.«
Nein, nein, nein!
Ebensowenig ist es eine Figurenbeschreibung, wenn Sie alle Einzelheiten über die Figur erzählen, von der Kindheit bis heute. Ihre Figur muß eine Biographie haben, das ist richtig, aber die sollten Sie der Leserin nicht gleich auf der ersten Seite, möglichst noch im ersten Absatz, um die Ohren schlagen.
Wie alt die Figur ist, wie groß sie ist, was für einen Beruf sie hat, welche Probleme sie hat, das alles sollten wir im Verlauf des Romans erfahren, aber nicht, indem Sie es der Leserin direkt sagen. Es muß sich aus dem Zusammenhang ergeben.
Wie beschreibe ich nun also meine Figuren, ohne daß ich der Leserin direkt sage, was ich ihr sagen will?
Am besten geht das über auffällige Kleinigkeiten, entweder im Äußeren oder im Verhalten.
Ein Beispiel:
»Sie trug ein Kostüm in gedeckten Farben. Nichts unterschied sie von den anderen Angestellten, die an diesem Morgen das Bürogebäude betraten. Wenn da nicht der hellrote Schal gewesen wäre.«
Der hellrote Schal ist ein auffälliges Merkmal. Natürlich darf diese Figur diesen Schal dann nicht nur einmal tragen, sondern sie muß immer irgendeine auffällige Kleinigkeit an ihrer Kleidung haben, die sie von anderen unterscheidet.
Durch diese Beschreibung wird der Leserin deutlich suggeriert:
Diese Figur trägt nur gezwungenermaßen die Einheitskleidung der Angestellten.
Sie muß sie vielleicht tragen, weil sie Bankangestellte ist und es für den Umgang mit Kunden eine Kleidervorschrift gibt, der sie sich nicht entziehen kann. Aber sie fügt dem vorgeschriebenen gedeckten Kostüm ein individuelles und dazu noch sehr auffälliges Merkmal hinzu. Sie ist ein besonderer Mensch mit einem eigenen Willen und eigenen Ansichten. Sie läßt sich nicht so leicht etwas befehlen.
Das alles sagt der rote Schal aus. Man muß also nicht jede dieser Eigenschaften einzeln beschreiben, es reicht ein einziger, kleiner Hinweis.
Ebenso verhält es sich mit auffälligen Verhaltensweisen. Vielleicht ist das Aussehen einer bestimmten Figur gar nicht das Hervorstechende an ihr, sondern eher das, was sie tut und wie sie es tut.
Beispiel:
»Sie schoß herein wie von der Tarantel gestochen.«
Wenn diese Figur das immer tut, nicht nur einmal bei einem besonders aufregenden Anlaß, charakterisiert diese hektische Art die Figur. Sie ist ein unruhiger, aufgeregter Mensch. Sie kann nicht stillsitzen, kann sich vielleicht auch nicht konzentrieren, ist eventuell oberflächlich und bringt alles durcheinander.
Dieselbe Beschreibung könnte aber auch eine sehr dynamische Person charakterisieren, die zwar immer sehr in Bewegung ist, was jedoch eher energiegeladen wirkt als hektisch.
Es kommt immer darauf an, was Sie daraus machen. Achten Sie darauf, daß die Figur vor den Augen der Leserin lebendig wird, daß die Leserin sie sieht, als ob ein Film vor ihr ablaufen würde.
Die Beschreibung einer Verhaltensweise ist oft ein eindeutigeres Merkmal als Äußerlichkeiten.
Beispiel:
»Immer, wenn man sie ansprach, preßte sie die Lippen zusammen, und ihre Wangenknochen traten scharf hervor.«
Man weiß sofort: Diese Figur »sitzt« auf ihren Gefühlen. Sie läßt sie nicht heraus, versucht immer, sie zu unterdrücken. Sie ist vermutlich kein besonders offener Mensch. Vielleicht hat sie Angst vor Gefühlen, vielleicht hat sie Angst vor Menschen. Vielleicht hat sie schlechte Erfahrungen gemacht. Auf jeden Fall verschließt sie ihr Inneres so weit wie möglich jedem Zugriff von außen. Vermutlich ist sie ein sehr einsamer Mensch.
Ganz anders hier:
»Ihr schwerfälliger Gang täuschte. Er schien vorzugeben, daß auch ihr Geist schwerfällig war. Wenn man sie jedoch im Gerichtssaal sah, wie sie sich plötzlich aufrichtete und ihre Augen vor Intelligenz blitzten, war es vielleicht zu spät, seine Meinung zu ändern.«
Hier ist eine scharfsinnige, vielleicht auch scharfzüngige, eventuell sogar übermütige Person, die eine Art Mimikry betreibt. Sie gibt sich harmlos, indem sie ihre äußerlichen Merkmale (vielleicht ist sie übergewichtig und nicht mehr ganz jung) zur Täuschung ihrer Umwelt nutzt. Sie wird leicht unterschätzt, aber sie gewinnt immer.
Die Augen sind dabei ein wichtiger Hinweis. An nichts kann man den Charakter eines Menschen so gut erkennen wie an den Augen. Ein »stumpfer Blick« sagt mehr aus als »Sie war nicht gerade die Intelligenteste«, ein »schelmisches Augenzwinkern« beschreibt eine Figur besser als »Sie hatte Humor«.
Auch die Beschreibung »Sie wich meinem Blick aus« ist aussagekräftig. Denn ein Mensch, der einem anderen nicht in die Augen schauen kann, hat irgendwelche Probleme. Vielleicht ist der Mensch feige, er war schon immer so, es ist sein ihm angeborener Charakter. Oder die Figur schämt sich, hat Angst, ist vielleicht auch schwach und hilflos.
Ein »offener Blick« jedenfalls macht eine Figur sympathisch. Ist es der Bösewicht, der diesen »offenen Blick« zur Schau trägt, ist er wahrscheinlich ein Psychopath, denn nur Psychopathen sind in der Lage, sich so zu verstellen, daß sie trotz abgrundtief böser Gedanken sympathisch erscheinen.
Somit sind die Augen ein substantieller Bestandteil des Charakters und der Charakterbeschreibung einer Figur.