Die Hauptfigur

Immer wieder bekommen wir Manuskripte zugeschickt, die eigentlich gar nicht so schlecht geschrieben sind, aber irgendwie fehlt der letzte »Kick«, man liest und liest und liest und wird einfach nicht in die Geschichte hineingezogen.

Oftmals liegt der Grund dafür in einer schwachen Hauptfigur. Wenn die Hauptfigur ein Jammerlappen ist, unentschlossen und unfähig zu handeln oder immer nur versagt, interessiert die Geschichte niemand.

Im täglichen Leben begegnen wir solchen Figuren oft, wir sind daran gewöhnt, und wenn es nicht allzu schlimm ist, akzeptieren wir die Menschen einfach, wie sie sind. Wenn sie allerdings nur jammern und keinen anderen Zustand kennen, gehen wir ihnen aus dem Weg.

In einem Roman jedoch akzeptieren wir eine solche Figur als Hauptfigur nicht. Als Nebenfigur, die nur kurz einmal auftaucht (oder auch länger), ist es möglich, sich mit einer solchen Figur anzufreunden, sie sogar zu mögen, zumal wenn sie auch einmal positive Eigenschaften zeigt, aber als Hauptfigur – niemals.

Denken wir nur an »Joxer«, Xenas und Gabrielles tolpatschigen Begleiter. Wir mögen ihn, weil er immer guten Willens ist, weil er offensichtlich Minderwertigkeitskomplexe hat, weil er eine sehr menschliche Figur ist. Aber würden wir die Serie anschauen, wenn sie »Joxer« hieße und nicht »Xena«? Wohl kaum.

Eine starke Figur

Xena ist eine starke Figur, die ihre Schwächen hat, aber sie ist immer durchsetzungsfähig, sie weiß, was sie will, sie überwindet sich, auch Dinge zu tun, die ihr widerstreben, um anderen zu helfen. Joxer kann noch nicht einmal sich selbst helfen.

Sicherlich, manchmal gefällt es uns, in einem Buch zu lesen, daß es anderen auch nicht besser geht als uns, daß sie nicht glücklicher sind als wir, daß es ihnen vielleicht sogar schlechter geht als uns selbst und wir uns dadurch besser fühlen können.

Aber wollen wir das 500 Seiten lang lesen? Nein.

Deshalb sollten Sie in Ihrem Roman darauf achten, daß Ihre Hauptfigur Stärken und Schwächen hat, zum Schluß jedoch stärker ist als die meisten realen Figuren, die wir kennen.

Ausgewogenheit

Nur Stärken, das geht auch nicht. Eine solche Figur ist unsympathisch. Ein Mensch, dem immer alles gelingt, der immer alles richtig macht, der nie versagt, der keinerlei Zweifel an sich hat oder an der Art, wie er sein Leben führt – das ist meistens nicht besonders interessant. Damit eine Figur interessant wird, muß sie auch Schwächen haben, sie muß Schwierigkeiten haben, das zu erreichen, was sie erreichen will. Eventuell muß es sogar unmöglich sein, daß sie glücklich wird.

Nehmen wir als Beispiel wieder Xena. Sie ist stark, praktisch unbesiegbar, wer immer ihr in die Quere kommt, muß sich in acht nehmen. Physisch ist sie kaum zu schlagen. Sie fliegt durch die Luft wie Superman, hat Waffen, die niemand aufhalten kann, kämpft für die Armen und Unterdrückten und gewinnt immer.

Eine langweilige Figur, oder?

Deshalb haben die DrehbuchautorInnen ihr eine Vergangenheit verpaßt, die das alles relativiert. Xena war nicht immer gut. Sie war eine Kriegsherrin, sie hat Heere geführt, die blutige Schlachten geschlagen haben – gegen andere Heere, aber auch gegen Unschuldige, gegen Frauen und Kinder. Sie ist für viele, viele Massaker verantwortlich.

Tja, jetzt sieht die Sache schon anders aus. Jemand, der immer nur gut ist, ist langweilig, aber jemand, der einmal böse war und sich dann versucht zum Guten zu wandeln – das könnte eine interessante Figur werden.

Xena versucht das wiedergutzumachen, was sie angerichtet hat, indem sie nun auf der anderen Seite kämpft und nicht mehr mit einem Heer voller Söldner, sondern auf sich allein gestellt.

Das Alter Ego

Nicht so ganz allein, wie wir wissen, denn es gibt ja Gabrielle, die schon bald zu ihr stößt, und aus den beiden Einzelpersonen Xena und Gabrielle werden »Die Unzertrennlichen«.

Gabrielle ist wirklich eine höchst langweilige Figur, sie ist immer nur gut, kann zu Anfang noch nicht einmal sich selbst verteidigen, weil sie keine Gewalt anwenden kann, selbst wenn ihr Leben bedroht ist. Zudem ist sie eine Künstlerin, sie schreibt Epen, Gedichte, will eine Bardin werden.

Das ist das einzig Interessante an ihr, denn »Barde« war ein reiner Männerberuf, für Frauen verboten. Daß sie diesen Beruf wählt, ist also eine Grenzverletzung, eine Tabuüberschreitung.

Dennoch – eine Serie namens »Gabrielle« würde uns genausowenig interessieren wie eine Serie namens »Joxer«. Beide Figuren können nur als Randfiguren existieren, Joxer in der komischen Rolle und Gabrielle als Xenas treue Freundin, die der ehemaligen Kriegsheldin ab und zu einmal etwas darüber erzählt, wie die Menschen wirklich sind und was sie wirklich wollen.

Die Einzelgängerin

Xena ist nämlich, obwohl sie durchaus gut sein will, keine Menschenfreundin. Sie ist eine Einzelgängerin, deren Begegnungen mit Menschen eher zufällig und gezwungenermaßen erfolgen, ebenso wie ihr Einsatz für die Gerechtigkeit.

Gabrielle läuft den Menschen hinterher (zuallererst Xena), Xena flieht vor ihnen. Darin liegt ein gewisses Konfliktpotential.

Einzelgänger sind generell interessante Figuren, aber nur dann, wenn sie irgendwann einmal eine Entwicklung durchlaufen und am Ende dieser Entwicklung bereit sind, sich wenigstens zu einem kleinen Teil auf Menschen einzulassen. Ein Einzelgänger, der immer Einzelgänger bleibt, über dessen Innenleben man nichts erfährt, nicht, warum er so ist, nicht, ob er es genießt oder haßt, nicht, ob er sich ändern will, wird das Interesse des Publikums nicht auf Dauer fesseln können.

Deshalb braucht Xena Gabrielle, die dieses Innenleben aus ihr herauslockt. Gabrielle ist die Stichwortgeberin für Xenas Psyche.

Der lesbische Liebesroman

Für den lesbischen Liebesroman sind Xena und Gabrielle deshalb zu so etwas wie einem Standardvorbild geworden. Es gibt ungeheuer viel Fanfiction über Xena, sowohl in ihrer von der Serie vorgegebenen Originalumgebung als auch in übertragener Form wie beispielsweise bei unseren Autorinnen Melissa Good und Brenda Miller. Beide haben als Fanfiction-Autorinnen angefangen.

Allein daß es so viel Fanfiction über Xena und Gabrielle gibt zeigt, wie gut ausgedacht die Figuren sind. Es zeigt auch, daß etwas in der Serie fehlt, nämlich der lesbische Teil, der immer nur im Subtext in der Serie kolportiert wird, aber nie an der Oberfläche. (Ja, ich weiß, die eine Kußszene – aber das war wirklich harmlos. )

Warum die Serie jedoch trotz der merkwürdigen Umgebung, der ungewöhnlichen Gestalt einer Frau als Kriegsherrin und der oftmals unverständlichen Bezüge auf jede Art der Mythologie, angefangen von der griechischen über die chinesische bis hin zur christlichen, so erfolgreich war, das liegt definitiv an der starken Hauptfigur.

Xena jammert nicht

Xena ist voller Selbstzweifel und Schuldgefühle über das, was sie getan hat, aber sie jammert nie. Sie verdrängt lieber. Manchmal holt Gabrielle etwas aus ihr hervor, was sie nicht zeigen will, dann erscheint sie verletzlich und menschlich, aber das hält nie lange an, denn schon muß wieder das nächste Dorf vor der Vernichtung gerettet werden.

Trotz ihrer vielen guten Taten wollen die meisten Menschen zuerst nichts mit Xena zu tun haben, wegen ihrer Vergangenheit. Sie verachten sie, fürchten sie, hassen sie, vertreiben sie aus ihrem Dorf, bis sie sie dann brauchen und um ihre Hilfe flehen. Egal wie schlecht die Dorfbewohner sie behandelt haben, Xena lehnt nie ab zu helfen und sie verlangt nie eine Belohnung. (Man fragt sich, wovon Xena und Gabrielle leben, aber das fragt man sich bei solchen Serien ja öfter.)

Wenn Sie also einen Roman schreiben wollen, erschaffen Sie eine tatkräftige Protagonistin, kein Weichei. Erschaffen Sie keine Versagerin, sondern eine Frau, die weiß, was sie will, und das auch meistens bekommt (aber nicht immer, sonst wird sie zu unsympathisch). Erschaffen Sie eine Hauptfigur, die handelt, nicht eine, die immer nur darüber nachdenkt, was sie vielleicht tun könnte.

Handlung erzeugt Spannung. Denken erzeugt (meistens) keine.

Ihre Hauptfigur muß Stärken und Schwächen haben. Die Stärken sollten offensichtlich sein, die Schwächen erst langsam zum Vorschein kommen und sie sympathisch machen.

Vor der Tür

Überlegen Sie einmal, wie Ihre Figur sich verhalten würde, wenn Sie sie vor eine geschlossene Tür stellen, hinter der jemand sitzt, den Ihre Figur sprechen will.

Wird sie, wie in Kafkas Geschichte mit dem Türhüter, vor der Tür verharren und warten, bis sie hineingebeten wird, oder wird sie einfach hineingehen und eventuelle Konsequenzen tragen?

Eine Figur, die vor der Tür stehenbleibt, ist eine schwache Figur. Sie wartet lieber ab als zu handeln. Sie ist nicht als Hauptfigur für einen Roman geeignet. Die Leserinnen werden eine solche Figur verachten und sich langweilen.

Können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie die Geschichte von Kafka zum ersten Mal gehört oder gelesen haben? Meist geschieht das in der Schule, und man versteht die Geschichte nicht, weil man noch zu jung ist. Aber ist es nicht so, sobald man die Geschichte versteht, daß man denkt: »Was für ein Dummkopf! Warum ist er nicht einfach hineingegangen?«

Genauso werden Ihre Leserinnen über Ihre Hauptfigur denken, wenn sie nicht stark genug ist, das banale Hindernis einer Tür zu überwinden.

Xena würde die Tür eintreten.